Warum Energieversorger sich jetzt mit dynamischen Tarifen beschäftigen sollten

Seit Beginn des laufenden Jahres sind gemäß dem Energiewirtschaftsgesetz (§ 41a EnWG) Energieversorger, die zum Ende des Vorjahres mehr als 200.000 Stromkunden beliefern, verpflichtet, Kunden mit eingebautem intelligenten Messsystem einen „Stromliefervertrag mit dynamischen Tarifen“ anzubieten. Gemein sind damit Stromverträge mit mindestens stündlich wechselnden Preisen, die die Preisschwankungen auf dem Spotmarkt widerspiegeln.

Grundsätzlich dürfte dies den meisten Energieversorgern, vor allem natürlich den unmittelbar betroffenen, bekannt sein. Die konkrete Ausgestaltung dieser Tarife und ihre Umsetzung samt aller damit verbundener Prozesse wirft allerdings einige Fragen auf und stellt die Versorger vor verschiedene Herausforderungen.

 

Messung und Bilanzierung vor dem Hintergrund der MaKo 2022

Um dynamische Tarife abbilden zu können, müssen zunächst stündliche Messwerte aufgezeichnet und übermittelt werden, wozu der Kunde sein Einverständnis geben muss. Darüber hinaus muss der Lieferant künftig beim Netzbetreiber die viertelstündliche Bilanzierung bestellen, die dem Tarifanwendungsfall Nr. 7 (Zählerstandsgangmessung) von intelligenten Messsystemen (iMS) entspricht. So sehen es zumindest die aktuellen Vorgaben der Bundesnetzagentur in den Geschäftsprozessen zur Kundenbelieferung mit Elektrizität (GPKE) im neuen Kapitel „Prozesse zum Austausch von Konfigurationen und Parametrierungen“ vor (siehe S. 153 ff. GPKE).

Diese neuen Prozesse, die nicht zuletzt die aktuellen und künftigen Möglichkeiten bzw. Anwendungsfälle der iMS in die Marktkommunikation integrieren und standardisieren sollen, sollten im Rahmen der MaKo 2022 spätestens zum 1. April 2022 umgesetzt sein. Bekanntlich wurde der Stichtag der MaKo 2022-Umsetzung aber vor kurzem auf den 1. Oktober verschoben.

Laut einer Stellungnahme von BBH gibt es für den Lieferanten aber durchaus die Möglichkeit, auch vor der Anwendung der neuen GPKE-Prozesse dynamische Tarife anzubieten, und zwar „indem er die abrechnungsrelevante Arbeitsmenge für die jeweilige Tarifstufe mittels der vom Messstellenbetreiber übermittelten Lastgangdaten in seinem Backendsystem selbst berechnet“.

 

Beschaffung

Solange für die betreffenden Kunden allerdings weiterhin ein Standardlastprofil veranschlagt wird, wie es momentan in der Regel der Fall sein dürfte, muss der Lieferant sich bei der Prognose seiner Liefermengen im Rahmen seines Bilanzkreisvertrags daran orientieren und darauf auch seine Beschaffung aufbauen – so zumindest die allgemein dominierende Lesart. Wo bereits dynamische Tarife mit SLP-Kunden abgeschlossen wurden, kann sich dadurch eine erhebliche Diskrepanz zwischen den beim Kunden abgerechneten Preisen und den beschafften Mengen ergeben.

Ein Übergang vom SLP zur Zählerstandsgangmessung (nach Rücksprache mit dem Netzbetreiber) könnte hier weitgehend Abhilfe schaffen. Die Prognose und Beschaffung kann dann anhand von Erfahrungswerten erfolgen, die auf dem tatsächlichen Verbrauchsverhalten der Kunden in dynamischen Tarifen beruhen.

 

Wie verbreitet sind dynamische Tarife, wer bietet sie an?

Vor Inkrafttreten der Pflicht für größere Versorger waren nur eine Handvoll Anbieter mit echten dynamischen Tarifen, also solchen mit stündlich wechselndem Arbeitspreis im Markt präsent. Zu diesen zählen Tibber, aWATTar, Q Cells (White Label von aWATTar), Voltego (Fokus auf SLP-Gewerbekunden) und Audax Energie.

Wir haben uns im Februar 2022 die Webseiten der rund 45 Energieversorger in Deutschland angeschaut, die über 200.000 Stromkunden beliefern und damit grundsätzlich seit Jahresbeginn einen dynamischen Tarif anbieten müssten.

Das Ergebnis: Nur bei fünf Unternehmen findet sich ein Angebot auf der Webseite. Die Versorger, bei denen wir fündig wurden, sind: Stadtwerke Düsseldorf, NaturEnergie (Energiedienst), DEW21, GASAG und Yello Strom.

 

Nachfrage für dynamische Tarife

Die Nachfrage lässt sich nicht so leicht einschätzen, weil es recht unterschiedliche Umfrageergebnisse und Aussagen gibt. Eine Befragung von 2.450 Deutschen durch Statista im Auftrag von E.ON ergab bspw. im März 2021, dass 59 Prozent sich vorstellen können, einen dynamischen Tarif zu nutzen.

Im Rahmen der Vertriebskanalstudie Energie 2021 von Kreutzer Consulting und Nordlight Research fanden hingegen nur 18 Prozent von über 1.900 Befragten dynamische Tarife attraktiv.

Die entscheidende Frage ist aber vielleicht gar nicht, wie attraktiv dynamische Tarife im Moment sind, sondern welche Bedeutung sie in Zukunft voraussichtlich haben werden. Die Anzahl von Haushalten und Gewerbebetrieben mit größeren verschiebbaren Lasten wie Solarspeichern, Wärmepumpen, und Wallboxen bzw. Elektroautos wird rasch ansteigen. Je höher das Lastverschiebungspotenzial, desto größer dürfte bei vielen Verbrauchern das finanzielle, aber auch das durch Nachhaltigkeitsaspekte motivierte Interesse sein.  

 

Unser Fazit: Dynamische Tarife nicht isoliert betrachten

Dynamische Tarife ermöglichen es den Anbietern, Lieferung und Beschaffung in einem Maße zu synchronisieren, das bei Fixpreistarifen nicht möglich ist. In der Folge

  • geht das Preisrisiko an den Kunden über und aufwändige Tarifkalkulationen erübrigen sich,
  • sind Erlöse fix planbar, weil unabhängig von der Börsenpreisentwicklung,
  • gehören Preisanpassungen zum Geschäftsmodell und müssen nicht individuell angekündigt werden und
  • der Versorger wird als transparent und fair wahrgenommen.

Dynamische Tarife können aber auch unter anderen Gesichtspunkten Vorteile bringen, die über das unmittelbare Erlöspotenzial hinausgehen. Wenn das Angebot gut umgesetzt ist, positioniert sich der Versorger als innovativ und bringt sich in eine gute Position für die Vermarktung weiterer Produkte und Services, etwa in den Bereichen Smart Home, Energiemanagement, PV und Speicher, Wallboxen etc.

Vor diesem Hintergrund sollten dynamische Tarife also nicht isoliert, sondern als Teil eines komplexeren Energie-Ökosystems betrachtet werden, das einen wichtigen Beitrag zum Smart Grid und zur Energiewender leisten kann.

Schon ab nächstem Jahr werden alle Versorger mit mehr als 100.000 Stromkunden dynamische Tarife anbieten müssen. Auch kleinere Unternehmen sollten sich frühzeitig mit entsprechenden Angeboten auseinandersetzen und der zunehmenden Nachfrage frühzeitig mit innovativen Tarifen begegnen.

Viele weitere Informationen zu dem Thema finden Sie übrigens im Schwerpunktthema der Februar-Ausgabe von Energiemarkt Aktuell. Kennen Sie schon unser Kennenlern-Angebot für Energiemarkt Aktuell? Bestellen Sie jetzt unser Probeabo und sparen Sie 50 Prozent!

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